Am 14. Januar 2016 ist mit Karsten Oelze ein Urgestein der fränkischen Kletterszene von uns gegangen und hat eine große Lücke in seiner Familie, seinem Freundes- und Bekanntenkreis hinterlassen. Mit weit über 300 eingebohrten Kletterrouten war Karsten über viele Jahre hinweg einer der Haupterschließer von Neutouren im Frankenjura und mit seiner unverwechselbaren, humorvollen und unbeschwerten Art einer der Dreh- und Angelpunkte der fränkischen Kletterszene. Gemeinsam mit seiner Familie und treuen Wegbegleitern haben wir nachfolgend ein Portrait von ihm erstellt, das vor allem seinen sportlichen Lebensweg nachzeichnet.
Der gebürtige Westfahle, der 1962 das Licht der Welt in Iserlohn erblickte, begann seine sportliche Karriere auf dem turnerischen Sektor. Doch bald war klar dies war nicht sein Weg, Karsten wollte etwas Anderes, etwas ganz Neues musste her. Er wollte einen offeneren Sport – weg vom reinen Leistungsvergleich – und das Ganze möglichst in freier Natur. Für Karsten war hierfür die zwar schon ältere, aber in diesen Jahren quasi neu geborene Sportart Klettern genau das Richtige. Den Einstieg fand er noch in der Ära „Bollerschuhe“ – technisches Klettern war damals das Maß der Dinge – doch kurz darauf brachte der Rotpunktgedanke, aufgebracht durch Kurt Albert, mächtig Schub in die damals etwas stagnierende Szene. Für Karsten der Weg ins Licht. Hier konnte er sich nach
Herzenslust austoben. So ging es fast jedes Wochenende mit seinen Geschwistern und Freunden ins heute leider gesperrte Hönnetal im Sauerland. Grenzen setzte nur das eigene Kletterkönnen und das damals durchaus noch etwas begrenzte Routenangebot. Folgerichtig dauerte es nach diesen ersten Schritten am Fels dann auch gar nicht lange bis ihn der Bohrteufel am Wickel hatte. Neuland gab’s in Hülle und Fülle und so manch eine Einbohraktion musste in unbemerkten Momenten mit Tarnkleidung vollbracht werden, da nicht an jedem der gewählten Felsen der Klettersport uneingeschränkt geduldet wurde. Sein Erkundungstrieb jedenfalls war
unwiderruflich geweckt und in den frühen Jahren lockten hauptsächlich die schroffen Kalkriegeln des Ith, wo Karsten den damaligen Topkletterer Milan Sykora kennenlernte, der in den folgenden Jahrzehnten ein treuer Weggefährte werden sollte.
Im Frankenjura, das er bald schon als Basislager für sein Leben auserkor, waren Einbohraktionen viele Jahre lang völlig unproblematisch, ein Traumzustand für Karstens Erschließungsdrang. Neutouren entstanden gleich dutzendweise und jedes Mal, wenn man Karsten damals traf, konnte er mit leuchtenden Augen wieder von massenhaft Neutouren berichten. Die kalte Jahreszeit wurde in seiner Sturm und Drangzeit nicht nur zum Training an der ausklappbaren Boulderwand im Wohnzimmer genutzt, sondern war stets auch willkommene Gelegenheit für ausgedehnte Winterwanderungen zum Zwecke der Neulandsuche. Sein Kletterkönnen steigerte sich über die Jahre hinweg kontinuierlich und so konnte er bald auch schwere Erstbegehungen wie zum Beispiel Thors Hammer
(10-), Prawda (10-/10) oder Lügenbaron (10-) dem fränkischen Routenfundus hinzufügen. Für schwere Wiederholungen fehlte ihm zwar manchmal etwas die Motivation, was ihn aber nicht daran hinderte, Routen wie Bastard (10-/10), Master Blaster (10-/10) oder auch Chouca (8a+) im südfranzösischen Buoux eine Begehung abzuringen. Seine wahre Leidenschaft aber galt immer der Neulandsuche, was der Kletterergemeinschaft an der Grünen Hölle, der Betzensteiner Sportkletterwand, dem Steinberg, der Kalten Wand, den Marientaler Wänden, den Schda Schdum, der Amerikanischen Botschaft, der Soranger Wand, den Edelsteinen, Zamonien, der
Schwarzbrennerei sowie zahlreichen weiteren Felsen zahreiche Neutouren bescherte.
Dieser kleine Auszug aus seinem sportlichen Wirken lässt es bereits erahnen, Karsten war geradezu ein Neulandsüchtiger, dem das Frankenjura als Spielplatz für seinen Erschließerdrang bei Weitem nie gereicht hat. Und so findet man heute auf Sizilien, auf der griechischen Ferieninsel Kalymnos oder auch im italienischen Traditionsklettergebiet Finale Ligure, überall jede Menge erstklassige Routen die von der unermüdlichen Tätigkeit dieses Felspioniers Zeugnis ablegen. In all den Jahren hat Karsten sich dabei viele Spielarten des faszinierenden Klettersports zu Eigen gemacht. War er in den Anfangsjahren noch häufig alpin unterwegs verschrieb er sich in den Folgejahren nahezu ausschließlich dem Sportklettern. Aber auch dies war niemals Grund für Ihn sich anderen
Spielarten des Kletterns zu verschließen. Bouldern beispielweise war, je nach Zeit, mal eher nebenbei und manchmal ganz intensiv ebenfalls absolut Karstens Ding. Ob in Traditionsgebieten wie Fontainebleau oder in boulderhistorisch gesehen nahezu jungfräulichen Gebieten wie der griechischen Insel Tinos oder schlicht auf der Schwäbischen Alb, überall war Karsten häufig Vorreiter bei der Erschließung von neuen Bouldergebieten oder hat zumindest seine Fußsspuren in Form vieler neuer Boulder hinterlassen. Die enorme Vielschichtigkeit machte für Karsten stets den eigentlichen Reiz an seinem geliebten Sport aus.
Beruflich hatte Karsten eine kunterbunte Karriere hinter sich. Unzufrieden mit herkömmlichen Berufen als EDV-Kaufmann und Programmierer, widmete er seine spätere Tätigkeit dem Klettersport sowie der Outdoorbranche und bezeichnete sich selbst humorvoll als „Ropes Course Trainer im Hochseilgarten, Outdoorfuzzi, Indoorschrauber und Mann für alle Fälle“. Manchen dürfte er auch als Autor mehrerer Kletter- und Boulderführer (z.B. Griechenland, Sizilien und Norditalien) bekannt sein.
Als Karsten nach einer Operation im Jahr 2009 seinem geliebten Hobby nicht mehr mit der gewohnten Intensität nachgehen konnte, musste er seine unermüdliche Energie auf andere Bereiche verlagern. So entdeckte er die elektronische Musik für sich, tanzte nächtelang durch, kreierte eigene Remixes und legte als DJ bei einschlägigen Events wie der „Klangtherapie“ vor begeistertem Publikum seine Kompositionen auf. Trotz körperlicher Beschwerden blieb er dem Klettersport aber auch weiterhin treu, indem er hier und da bei guter Gelegenheit eine Neutour erschloss oder auch mal einen knackigen Boulder herausputzte. Zudem wurde sein Leben durch seinen Sohn Bela bereichert, der heute vier Jahre alt ist.
Abseits aller sportlichen Leistungen, war Karsten ein weltoffener Mensch der seine zahlreichen Wegbegleiter mit all ihren Eigenheiten akzeptierte wie sie eben waren. Sein köstlicher Humor fand in Büchern wie „Per Anhalter durch die Galaxis“ oder „Käptn Blaubär“ die zu seinen Lieblingsbüchern gehörten stets neue Nahrung. Über „Tratschwellen“ und ähnlich unsinnige literarische Erfindungen konnte sich das Kind im Manne königlich amüsieren.
Seine Freunde werden seine zwar unregelmäßigen aber doch stets wiederkehrenden telefonischen Lebenszeichen vermissen. Ein unvermutetes Klingeln, Sein telefonisches „Ja hallo ich bins, der Karsten“, und die folgenden Minuten unbeschwerten, lustigen Plauderns, bei dem er es irgendwie immer fertig gebracht hat, dass die Alltagssorgen für eine kleine Zeit ansatzlos vergessen waren … es wird uns fehlen.
In diesem Sinne „So long, machs gut…“ Karsten, wo immer Du jetzt auch bist!
Viele von Karstens Gedanken wurden im einen Interview vor einigen Jahren festgehalten, in dem sich Karsten zu vielen Themen des Kletterns folgendermaßen geäußert hatte:
„Schön ist es, wenn ein Projekt nicht so schwer ist, dass ich selbst dann nicht rauf komme. Es gab da schon Projekte, die ich ein Jahrzehnt nicht aufgeben wollte“ – erinnert sich Karsten an sein Projekt am und fährt dann fort: „Mittlerweile glaube ich, dass es besser ist, Sachen, die man gerade nicht klettern kann, einfach frei zu geben. Es gibt so viele Talente, die sich darüber freuen, auch mal eine Erstbegehung zu machen und es einem dann auch irgendwie danken.“
Auf die Frage nach seiner interessantesten Erstbegehung fällt ihm die Wahl sichtlich schwer „Soll ich wirklich? – ich kann mich nicht entscheiden!“. Dann aber doch: „In Franken, die Stromlinie, weil so eine herrlich klassische Route, oder den Sultan of swing – war meine erste in Franken oder die Routen an der Kalten Wand, weil sie einfach so neben der Straße im Wald verborgen lagen. Sonstwo: Kalymnos, herrliche Felskulisse in gemütlicher Umgebung, Sizilien – Wahnsinn was da rum steht. Griechenland – Pilion, Argolis, Kreta – überall noch viel zu entdecken“. Dann kommt die obligatorische Frage nach dem Warum, was ist so faszinierend an diesem Sport? Da kommt auch der immer zu einem Scherz aufgelegte Karsten ins Nachdenken. „Wieso klettern? Ist eigentlich gar nicht so leicht zu beantworten. Angefangen habe ich sicherlich, weil ich was anderes machen wollte, als turnend meine Zeit in miefigen Hallen zu verbringen und Übungen mit anderen zu vergleichen. Interessant und lustig, dass es heute für viele Kletterer genau das geworden ist. Aber das ist auch genau das Schöne am Klettern. Es ist so vielschichtig und erlaubt mir, genau das zu tun, was mir gerade Spaß macht. Früher auch viel alpin, dann reines Sportklettern, neue Routen entdecken und einrichten, zwischendurch dem Bouldervirus verfallen und so weiter. Total spannend, was man alles kletternd machen kann. Ein Sport und tausend Gesichter. Das gibt‘s sonst nicht noch mal.“
Den immer stärker werdenden Andrang von Kletterern, der an Felsen wie dem Weißenstein bereits zu Zuständen ähnlich wie in Kletterhallen im Winter geführt hat, beobachtet auch er mit Sorge und meint dazu: „So ist das nun mal, seit Klettern zum Massensport geworden ist. Das sorgt besonders in den felsmäßig begrenzten deutschen Mittelgebirgen für Probleme. Andererseits ist dadurch natürlich auch die Lobby eine andere und Kletterer haben einen besseren Stand gegenüber Behörden und Naturschützern, die in einigen Bundesländern mit pauschalen Verboten weit über das Ziel hinausgeschossen sind.“
Aber nicht nur auf Seiten der Klettergegner liegt einiges im Argen, auch in den eigenen Reihen tut sich so manches, über das sich ein alter Kletterhaudegen wie Karsten so seine Gedanken macht. „Manches wurde und wird auch heute noch zu verbissen gesehen. Aus heutiger Sicht lustig zu betrachten, was es „damals“ für Streitereien gab. Der Pfälzer Hakenstreit inklusive Sägeeinsatz und Öl auf den Griffen, oder die verbissene Diskussion um das „weiße Lügenpulver“ Magnesia, um nur zwei Klassiker zu nennen. Auch heute gibt es wieder diverse Aufreger. Die Diskussionen über zusätzliche Haken in bestehenden Routen zum Beispiel. Mein Standpunkt ist es, dass – möglichst nach Rücksprache mit den Erstbegehern – an ausgewählten Felsen besonders die einfacheren Routen nachsaniert werden sollten, um Anfängern ein sicheres Klettern zu ermöglichen. Ich will das hier gar nicht weiter ausführen aber die Zeiten haben sich geändert und dem sollte man Rechnung tragen. Eigenverantwortung hin oder her – gebrochene Knochen sind keine Tradition wert. Das war schon so, als Oskar Bühler seiner Zeit anfing, alte Rostgurken durch sichere Bohrhaken zu ersetzen.
Ja, es wird voller an den Felsen, aber das wird es in jedem Fall. Je mehr Felsen mit gut gesicherten Routen auch in den unteren Schwierigkeitsgraden zur Verfügung stehen, umso mehr verteilen sich die Leute.“
Hary Röker
Uli Röker
Joshi Schulz
0 Kommentare